"Rühr sie nicht an..."

von Raymonde Harland erschienen in "katzen extra"4/00

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"Rühr sie nicht an, bevor sie dich anrühren" so lautet der Ratschlag einer bekannten amerikanischen Züchterin zum Umgang mit neugeborenen Kitten. Sie ist der Meinung, daß die Kleinen blind und taub, wie sie geboren werden, vom Menschen sowieso nicht viel mitbekommen. Außerdem sei das Risiko von Infektionen viel zu hoch. Sie wartet lieber ab, bis die Kätzchen mit ca. 4-5 Wochen aus der Wurfkiste kommen und von sich aus Kontakt zum Menschen suchen. Ist dieser Umgang wirklich empfehlenswert - oder ist es weiteres Ammenmärchen unter Züchtern?

Tiffanie the Fabulous, Maine Coon

Katzen werden tatsächlich blind und taub geboren, doch der Tast- und der Geruchssinn funktionieren schon hervorragend und auch eine Wärmequelle wird sofort gefunden. Diese Fähigkeiten brauchen die Kleinen um ihre Mutter und an ihr die Zitzen zu finden. Der Suchreflex sorgt dafür, daß sie am Bauch der Mutter entlang den Kopf nach beiden Seiten schwingen, bis sie eine Zitze gefunden haben.

Werden Neugeborene mit unbekannten Gerüchen konfrontiert, beginnen sie zu fauchen und zu spucken wie eine Schlange. Feinde sollen so abgeschreckt werden. Sind die Kitten allein in der Wurfkiste, versucht jeder den wärmsten Platz zu bekommen, zielstrebig steuern sie darauf zu. Dabei ist es egal, ob die Wärmequelle aus einer Wärmflasche, einer Infrarot-Lampe oder aus dem Haufen der Geschwisterchen besteht.

Ab dem fünften Tag sind Ohren nicht länger mit Hautfalten blockiert und funktionieren einwandfrei. Wird ein Kätzchen durch ein lautes unbekanntes Geräusch erschreckt, so reagiert es mit Fauchen. Die Mutter begrüßt die Kleinen jetzt mit ganz bestimmten Lauten, wenn sie sich dem Wurflager nähert und bald können die Kleinen auch antworten.

Maine Coon Baby vom Ihlwald

Zwischen dem 7. und 14. Lebenstag öffnen sich die Augen, danach nimmt das Sehvermögen rapide zu. Die Mädchen sind ihren Brüdern häufig voraus, aber auch die Rasse spielt eine Rolle. Neva Masquarade Kitten z.B. öffnen oft schon am 5. Tag ihre Augen. Wie frühreif ein Kitten ist, hängt auch von den Vorfahren ab. Öffneten die Eltern früh die Augen, so tun das auch die Kinder.

Alle Katzenkinder haben blaue Augen, weil die Flüssigkeit zwischen Linse und Netzhaut bis zu ca. 6. Woche noch trüb ist. Erst ca. 24 Stunden nach dem Öffnen der Augen reagieren die Pupillen auf Helligkeit, daher kann man annehmen, daß die Sehfähigkeit auch erst zu diesem Zeitpunkt einsetzt.

Ab der zweiten Lebenswoche richten sich die Ohren der Kitten auf, gleichzeitig öffnen sich die Gehörgänge richtig. Jetzt können die Kleinen die Richtung der Geräusche orten, dazu drehen sie die Ohrmuscheln nach allen Seiten.

In der zweiten Woche ist der Gleichgewichtssinn schon ganz gut ausgebildet und auch die Koordination der Gliedmaßen kommt in Gang. Probehalber stellen sich die Kleinen schon auf die Beinchen und sie können jetzt jeden Tag ein bißchen länger stehen und sogar schon Schritte machen.

Tiger the Fabulous, Maine Coon Willow2.jpg (44166 Byte)

Spätestens in der dritten Wochen können kleine Katzen einem Gegenstand langsam mit den Augen folgen. Die Entfernung von Gegenständen können sie allerdings noch nicht abschätzen, da das sogenannte binokulare Sehvermögen noch nicht ausgebildet ist. Sie lassen sich allerdings nicht davon abhalten, mit der Pfote nach Gegenständen zu tapsen und schon bald ist die kleine Katze in der Lage auf drei Beinen zu stehen und ihr Pfötchen zu putzen.

Mit drei Wochen wird der Suchreflex, der die Jungen in den Wochen zuvor ins Nest zurückgeleitete überflüssig, denn jetzt ist das Sehvermögen stark genug auch optisch das Nest wiederzufinden.

Ab drei Wochen brechen die 26 Milchzähne durch, das heißt nicht, daß sie jetzt nicht mehr gesäugt werden sollen, sondern, daß nach und nach auch feste Nahrung genommen wird. Die Mutter bleibt auch die nächsten Wochen noch die wichtigste Nährstoffquelle.

Ab der vierten Woche werden die Kleinen zu richtigen Energiebündeln, die nach und nach die gesamte Umgebung erkunden. Der Gang auf die Katzentoilette wird jetzt geübt und auch Mutters Futternapf wird zunehmend interessanter (manchmal verwechseln die Kleinen allerdings beides noch!) Die Mutter zeigt ihren Kindern jetzt die Regeln des Haushaltes und verteilt auch schon mal einen Nasenstüber, wenn die Kleinen sich daneben benehmen.

In der vierten Woche sind das Sehvermögen, der Gleichgewichtssinn und das Hörvermögen schon sehr gut ausgebildet. Die Kitten landen sicher auf allen vier Beinen, wenn die Absprunghöhe nicht zu groß ist, sie können ihre Mutter optisch erkennen und lernen die verschiedenen Laute der Katzensprache und Gebärden, obwohl es eher putzig als bedrohlich wirkt, wenn sie sich aufplustern und mit einem Buckel quer stellen.

Tinkerbelle the Fabulous, Maine Coon

Eine freilaufende Katzenmutter stellt die Kleinen erst mit ca. 5 Wochen den Menschen vor. Sie kommt in der Regel die ersten Wochen gut zurecht ohne menschliche Hilfe. Zwischen der vierten und der siebten Lebenswoche ist die Zeit für eine Sozialisierung. Erfahrungen mit Menschen in dieser Zeit prägen ein Kätzchen ein Leben lang, natürlich auch Erfahrungen mit anderen Tierarten, dabei richten sich die Kleinen ganz nach dem Verhalten ihrer Mutter. Eine menschenscheue Kätzin überträgt ihr Mißtrauen auf ihre Kinder. Dies ist auch die Zeit der Identitätsfindung, d.h. die Katze begreift, daß sie eine Katze ist. Ausschließlich von Menschen aufgezogene Kätzchen lernen dies nicht, begreifen andere Katzen nicht als Artgenossen und können sich ihnen gegenüber nicht artgerecht verhalten.

Die oben geschilderte Entwicklung der kleinen Katzen läuft auch ohne Zutun des Züchters ab. Für eine Prägung auf den Menschen ist es auch ab der fünften Woche noch früh genug - dies würde dafür sprechen die Kleinen "nicht anzurühren, bevor sie es nicht tun". Trotzdem spricht aus meiner Sicht auch vieles dafür es doch zu tun.

Da ist zum einen die Kontrolle der Gesundheit. Schon bald nach der Geburt sollte ein Züchter die Kitten gründlich anschauen. Sind alle Gliedmaßen einwandfrei ausgebildet ? Ist die Bauchdecke geschlossen - oder besteht ein Nabelbruch ? Ist der Gaumen geschlossen - oder ist da eine Spalte, die dem Kitten das Saugen unmöglich macht? Geht der Atem ruhig - oder rasselt er? Ein rechtzeitiges Erkennen von Störungen kann lebensrettend sein.

Die regelmäßige Gewichtszunahme ist ein wichtiges Kriterium einer störungsfreien Entwicklung. Dazu sollten die Kleinen regelmäßig gewogen werden. Auch wenn dieser Kontakt nur kurz ist - die Kätzchen lernen den Geruch des Menschen kennen und sie haben von Tag zu Tag weniger Angst, hochgenommen zu werden. Trägt der Mensch einen neuen Geruch an sich, so wird er erst einmal wieder angefaucht, bis auch dieser Geruch bekannt ist. Schon bald wird auch der Mensch mit freudigen Lauten begrüßt, wenn er an die Wurfkiste kommt.

Tinkerbelle the Fabulous, Maine Coon

Wenn das Gehör gut funktioniert, ist es an der Zeit für die Kitten alle Geräusche des Alltags kennenzulernen. Staubsauger, Haartrockner, Waschmaschine, Bohrmaschine, Radio usw. können sie ein Leben lang nicht aus dem Gleichgewicht bringen, wenn sie sie schon früh kennengelernt haben. Hat die Mutterkatze Angst, z.B. vor dem Staubsauger, so sollte man sie zum Zeitpunkt des ersten Kontakts mit diesem "lärmenden Ungeheuer" für kurze Zeit von den Kleinen trennen, damit diese nicht ihre Ängstlichkeit übernehmen. Der Klang der menschlichen Stimme wirkt auf die Kleinen beruhigend, wenn sie sie früh kennengelernt haben.

Wenn die Augen funktionieren, sollten sie auch etwas Interessantes zu sehen bekommen. Ein farbenfroher Gegenstand den der Mensch langsam bewegt ist ungeheuer spannend. So lernen die Kleinen den Menschen als Spielpartner kennen und freuen sich auf den Kontakt mit ihm.

Verlassen die Katzenkinder die Wurfkiste, so sollte die Umgebung wie ein kleiner Abenteuerspielplatz gestaltet sein. Verstecke, niedrige Kratzbäume (man kann auch einen großen Kratzbaum auf die Erde legen), Raschel-Papier und kleine Gegenstände gehören dazu. Wenn der Mensch mitspielt, macht es noch einmal soviel Spaß.

Alle Wildformen haben ein besser entwickeltes Gehirn als Haustiere. Dies ist so ausgeprägt, daß Wissenschaftler genau feststellen können, ob ein in der Nähe einer frühmenschlichen Ansiedlung gefundener Tierschädel zu einer Wildform oder zu einem frühen Haustier gehört. Die am Beginn jeder Haustierzucht stehende Inzucht ist daran Schuld, denn Inzucht verringert das Gehirnvolumen. Der Mensch nimmt dem Haustier auch die Nahrungsbeschaffung zu einem großen Teil ab und hält sie in einer vergleichsweise reizarmen Umgebung. Viele Haustiere langweilen sich deshalb und stumpfen ab. Eine frühzeitige Förderung der Sinne kann dem entgegenwirken.

So sind kleine Katzen, die frühzeitig regelmäßig mit Menschen Kontakt haben, besser auf ein Leben als Wohnungskatze vorbereitet. Ihr Umgang mit Menschen ist völlig angstfrei und voller Vertrauen, sie spielen gern mit ihm und bewahren sich ihre Neugierde, weil sie wissen, daß der Mensch ihnen immer wieder etwas Anregendes zum Erforschen bietet.