Inzuchtkoeffizient korrekt berechnen

Von Raymonde Harland

erschienen in "katzen-extra" 10/01

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Halten Sie europäische Menschen für Inzucht gefährdet? Man kann es kaum glauben, was die neuesten Forschungsergebnisse ans Licht brachten: alle Europäer stammen in weiblicher Linie von nur 7 Frauen ab.

Alle anderen weiblichen Linien, die selbstverständlich einmal existierten, sind ausgestorben, z. B. dadurch, daß eine Frau nur Söhne hatte. Männliche Linien gibt es wesentlich mehr, aber sie lassen sich (noch) nicht so eindeutig eingrenzen, wie weibliche. So sind also ein siebtel der Europäer über weibliche Vorfahren miteinander verwandt, ohne daß sie an Inzuchtdepression leiden.

Inzuchtdepression ist das Übel, dass Züchter mehr fürchten, als andere Zuchtfehler. Sie bewirkt, dass die Würfe kleiner werden, die Kitten häufiger sterben, dass chronische Krankheiten sich häufen und das Imunsystem insgesamt schlechter wird. Die Instinktsicherheit nimmt ab, ebenso die Intelligenz und die Körpergröße. Oft wird Inzucht auch für Missbildungen verantwortlich gemacht - dies allerdings zu Unrecht. Inzucht bringt lediglich in der Linie vorhandene defekte Gene zum Vorschein, arbeitet in diesem Fall also als Detektiv.

Dieser kleine LaPerm Kater heißt "Smeralda's Inner Smile" und hat einen Maine Coon zum Vater, denn bei dieser jungen Rasse muss noch viel Outcross betrieben werden, um den Genpool zu erweitern. Trotzdem muss der Typ der LaPerm erhalten bleiben. Eine schwierige Aufgabe für die Züchter

Durch Inzucht werden die vorhandenen Eigenschaften in einer Linie verstärkt, die guten wie die schlechten. Inzucht kann diesen Effekt haben, weil Gene von verwandten Tieren zu einem gewissen Prozentsatz übereinstimmen. Bei einer Verpaarung verwandter Tiere werden diese in vielen Genen reinerbig und können diese Eigenschaften sicher weiter vererben. Für die erwünschten Gene machen Züchter sich diesen Effekt gerne zu Nutzen, die negativen dabei auszuschalten ist schwieriger und erfordert viel Geduld.

Inzucht von eng verwandten Tieren, z.B. Vater und Tochter, bewirken eine schnelle Reinerbigkeit der Gene, da beide zu einem hohen Prozentsatz genetisch übereinstimmen. Diese sehr engen Verwandtenverpaarungen nennt man Inzest-Zucht. Hierbei sind 25% der Gene gleich, dies gilt für die Verpaarung von Elternteil X Kind und für die Verpaarung von Vollgeschwistern. (siehe Tabelle 1)

Die Verpaarung von Halbgeschwistern, bewirkt auch nur halb so viel gleiche Gene, also 12,5 %. Das gleiche Ergebnis bekommt man durch die Verpaarung von Onkel X Nichte bzw. Tante X Neffe, Großelternteil X Enkelkind und ähnlich weiten Verwandtschaftsverhältnissen (siehe Tabelle 1). Bis hierher spricht man von Inzucht.

Tabelle 1

Verpaarung Inzuchtkoeffizient %
Elternteil X Kind 25,00%
Vollgeschwister 25,00%
Halbgeschwister 12,50%
Onkel X Nichte, Tante X Neffe 12,50%
Großelternteil X Enkelkind 12,50%
Zweifache Cousins ersten Grades 12,50%
4-fache Halbcousins ersten Grades 12,50%
3-fache Halbcousins ersten Grades 9,38%
1-fache Cousins ersten Grades 6,25%
2-facher Cousin ersten Grades X Cousin zweiten Grades 6,25%
2-facher Halb-Cousins ersten Grades 6,25%
1-facher Cousin ersten Grades X Cousin zweiten Grades 3,13%
2-fache Cousins zweiten Grades 3,13%
1-fache Halb-Cousins ersten Grades 3,13%
1-fache Cousins zweiten Grades 1,56%

Verwandtenzucht heißt es in der nächsten Stufe. Z. B. bei der Verpaarung einfacher Cousins halbiert sich die Anzahl gleicher Gene noch einmal auf 6,25 %. Werden die Verwandschaftsverhältnisse noch komplizierter, gibt es in der deutschen Sprache schon keine Begriffe mehr außer umständlichen Beschreibungen wie 1-facher Halb-Cousin zweiten Grades. Diese weitläufigeren Verwandschaftsbeziehungen der Elterntiere fallen deshalb unter den Begriff Linienzucht. Hierbei liegt die Anzahl der gleichen Gene bei 1bis 2%. Da alle Katzen einer Rasse weitläufig miteinander verwandt sind, also einen gewissen Prozentsatz gleicher Gene haben, ist der Unterschied zur Verpaarung mit linienfremden Tieren nur noch sehr gering.

Die Tabelle 1 ist ein Hilfsmittel, solange die Verwandtschaftsbeziehungen noch nachvollziehbar sind. Wenn es komplizierter wird muß gerechnet werden. Keine Angst, es ist gar nicht so schwer wie es die Formel

Fx={(0,5)n1+n2+1 vermuten läßt.

Es gibt übrigens Computerprogramme für Züchter, die diese Arbeit abnehmen, leider arbeiten nicht alle korrekt. Sie können dies leicht überprüfen. Der Inzuchtkoeffizient muß immer gleich bleiben, egal wie viele Generationen berechnet werden ab 6 Generationen aufwärts. Einzige Ausnahme: es taucht ein Verwandter erstmals später doppelt auf. Dies kann der Fall sein, wenn ein Tier auf ein Ururururur-Großelternteil zurück verpaart wurde. Es kommt in der Praxis also so gut wie nie vor. Wenn ein Computerprogramm also den Inzucht-Koeffizienten mit jeder hinzugerechneten Generation erhöht, stimmt die Berechnung nicht. Es ist aber auch nicht schwer selber zu rechnen.

Verwandt ist man, wenn man gleiche Vorfahren auf mütterlicher und väterlicher Seite hat. Dies ist die Grundlage der Berechnung. Nehmen Sie sich also eine Stammbaumkopie und studieren Sie die Vorfahren genau, kennzeichnen Sie Vorfahren, die sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits erstmals im Stammbaum vorkommen. Falls diese Tiere öfter als zweimal vorkommen, kennzeichnen Sie sie am besten in verschiedenen Farben.

Nun also zur Formel. Fx ist der Inzuchtkoeffizient, 0,5 ist der halbe Chromosomensatz (Geschlechtszellen haben ja nur den halben Chromosomensatz, wie die übrigen Körperzellen), n1 ist die Anzahl der Generationen väterlicherseits zurück bis zum gleichen Vorfahren, n2 ist die Anzahl der Generationen mütterlicherseits zurück bis zum gleichen Vorfahren. 1 ist die Generation des Kindes. S ist das Zeichen für Summe, denn es kann ja sein, dass väterlicherseits und mütterlicherseits mehr als ein gemeinsamer erster Vorfahr vorhanden ist. Man muß dann also jeden einzeln berechnen und danach zusammen zählen, ebenso wenn ein Vorfahr öfter als zweimal im Stammbaum vorkommt.

An einem Beispiel wird es bestimmt noch klarer.

Stellen Sie sich z.B. eine Halbgeschwister-Verpaarung vor :

Marcos Stammbaum

Kind Eltern Großeltern
Marco Buster Aleko
Nosy
Hussy Aleko
Ixi

Marco ist das Kind der Halbgeschwister Hussy und Buster. Beide haben verschiedene Mütter: Ixi und Nosy, aber den selben Vater, nämlich Aleko. Geht man in Marcos Stammbaum zurück, ist also Aleko der erste gemeinsame Vorfahr seiner Eltern. Nun zählt man die Generation von Marcos Vater, Buster, bis zu seinem Großvater Aleko. Ergebnis: eine Generation, also ist n1 =1. Nun zählt man auf der Seite der Mutter von Hussy bis zu Großvater Aleko, das Ergebnis ist ebenfalls eine Generation. Also ist n2=1. Dazu kommt der Faktor 1 für Marcos Generation. Zählt man nun alle drei zusammen erhält man 3. Zu rechnen ist also 0,5 3 , also 0,5 x 0,5 = 0,25 und dies Ergebnis noch einmal x 0,5 Ergebnis: 0,125. In Prozenten ausgedrückt sind dies 12,5 %.

Würde man im Stammbaum von Marco noch weiter zurück gehen, würde man auf weitere Tiere stoßen, die väterlicher- und mütterlicherseits gleich sind, dies sind die Vorfahren von Aleko. Sie werden nicht berechnet. Ihr genetischer Beitrag zu Marco ist ja vollständig in Aleko enthalten, er ist also schon berücksichtigt. Viele Computerprogramme machen den Fehler, dass sie die Vorfahren eines bereits berechneten Tieres, ebenfalls berechnen und zum Inzuchtkoeffizienten addieren. Deshalb wird bei diesen fehlerhaften Programmen der Inzuchtkoeffizient auch immer höher, je mehr Generationen man in die Berechnung mit einbezieht. So kann man auf astronomische Inzuchtkoeffizienten kommen, wenn man alle Vorfahren mit einbezieht, bis zum Ursprung der Rasse. Streichen sie also am besten die Vorfahren der bereits berechneten Tiere auf ihrer Stammbaumkopie, damit Sie sie nicht versehentlich berechnen.

Für eine Vater x Tochterpaarung ist n1=0 und n2 = 1 dazu der Faktor 1 für die Generation des Kindes ergibt 0,52 also 0,5 x 0,5 das Ergebnis lautet 0,25 das sind 25 %. Verpaart man Vollgeschwister miteinander, so erhält man ebenfalls 25%. In den Zuchtrichtlinien vieler Vereine sind Rückverpaarungen auf ein Elternteil erlaubt, aber Vollgeschwisterverpaarungen nicht. Eine Regelung, die überdacht werden sollte.

Wenn Sie kompliziertere Verwandschaftsverhältnisse haben, müssen Sie jeden gemeinsamen ersten Vorfahren im Stammbaum einzeln berechnen und dann alle Koeffizienten zusammenzählen. In dem Stammbaum von Alice ist z.B. der Großvater väterlicherseits, Avid, auch zweimal der Urgroßvater mütterlicherseits, denn die Urgroßeltern mütterlicherseits waren Halbgeschwister. Die Großmutter väterlicherseits, Eva, ist auch die Urgroßmutter mütterlicherseits. Der Vater von Alice, Bimbo, ist also der Bruder von Alices Großvater mütterlicherseits: Fabian. Die Eltern von Alice waren also Onkel und Nichte. Mit der Tabelle 1 kommen wir hier also nicht weiter, sondern es muß gerechnet werden.

 Alices Stammbaum

Eltern Großeltern Urgroßeltern
Bimbo Avid Harvey
Ilonka
Eva Jonas
Karina
Esmeralda Fabian Avid
Eva
Hussy Avid
Lollipop

Wir müssen also mit Avid zweimal den Inzuchtkoeffizienten berechnen. Einmal für Bimbo und Fabian und einmal für Bimbo und Hussy. Bei Bimbo liegt Avid väterlicherseits eine Generation zurück also ist n1 = 1, bei Fabian liegt Avid von Esmeralda, der Mutter Alices, aus gesehen zwei Generationen zurück also ist n2 = 2, inklusive des Faktor 1 für Alices Generation müssen wir also 0,54 rechnen. Das Ergebnis ist 0,0625. Bei Hussy verfahren wir genauso. Wieder ist das Ergebnis 0,0625.

Eva kommt in Alices Stammbaum ebenfalls öfter vor. Väterlicherseits ist sie Alices Großmutter, von Bimbo also eine Generation entfernt. Mütterlicherseits ist sie Alices Urgroßmutter und von Esmeralda zwei Generationen entfernt. Wieder ergibt sich n1= 1 und n2 = 2 + Faktor 1, also wieder 0,54 = í (0,5 x 0,5) x 0,5ý x 0,5 = 0,0625. Rechnen Sie nun alle gemeinsamen Vorfahren zusammen ergibt sich 0,18,75. Alices Inzuchtkoeffizient liegt also bei 18,75 %. In der Tabelle 2  ist dies noch einmal übersichtlich zusammengefasst.

Tabelle 2

Gemeinsamer Vorfahr n1 n2 Anteil des gemeinsamen Vorfahren
Avid (für Bimbo und Fabian) 1 2 0,51+2+1=0,54=0,0625
Avid (für Binbo und Hussy) 1 2 0,51+2+1=0,54=0,0625
Eva (für Bimbo und Fabian) 1 2 0,51+2+1=0,54=0,0625
Summe                              0,1875

Immer wieder werde ich gefragt, wann der Inzuchtkoeffizient zu hoch liegt. Bei vielen Rassen ist es nicht zu umgehen mit verwandten Tieren zu züchten, da am Anfang der Rasse z.B. nur 3 Tiere standen, oder nach dem letzten Weltkrieg nur noch ein Deckkater überlebt hatte. Es gibt dafür keine allgemeingültige Regel. Durch jede weitere Generation seit dem Beginn einer Rassezucht wirken auch die Kräfte der Mutation, der Rekombination, und des Crossover der Gene. Diese Kräfte bewirken eine genetische Differenzierung, die zwar sehr viel langsamer verläuft, als die Kräfte der Inzucht, aber auch gegen die Reinerbigkeit ansteuert. Deshalb leiden auch die Europäer nicht an Inzucht, obwohl sie von nur 7 aus der Steinzeit stammenden weiblichen Linien abstammen.

Diese kleine Ragdoll trägt den Namen "Snuggling Joker Osita". Obwohl am Anfang der Ragdoll-Zucht nur drei Tiere standen, ist sie gesund und munter.

In der Geschichte der Menschen gibt es bekannte Beispiele der über viele Generationen andauernden Geschwisterehe, z.B. im alten Ägypten. In Versuchen mit Hunden, hat man festgestellt, dass die Welpensterblichkeit spätestens bei einem Inzuchtkoeffizienten von 18% zunimmt. Labormäuse sind ebenfalls sehr ingezüchtet, sie gleichen oft schon eher Klonen; die extreme Empfindlichkeit auf Krankheitskeime ist dort die häufigste Folge der Inzucht.

Bei der Verpaarung von nicht-verwandten Tieren tritt ein Heterosis-Effekt ein, d.h. die Jungen sind besonders gesund, frohwüchsig und vital. Jeder Züchter sollte deshalb versuchen eine "Gleich zu Gleich-Verpaarung" der Inzucht vorzuziehen. Das heisst man sollte phänotypisch gleiche aber nicht verwandte Tiere bevorzugt miteinander verpaaren, um so den Typ durch reinerbige Gene zu stabilisieren. Da viele rassetypische Merkmale nicht nur durch ein Gen, sondern polygenetisch vererbt werden, ist dies keine Sache von wenigen Generationen, sondern erfordert viel Zeit und Geduld.

Ein weiteres Beispiel für eine Großtante X Großneffe Verpaarung